Erasmus+ hat uns in kurzer Zeit stark verändert - Lernreisen an der VHS Rottweil

Text von Christina Budde | März 2023

Begeistert erzählt die Leiterin der VHS Rottweil, Dr. Anja Rudolf, davon, was durch sechs Erasmus+-Projekte innerhalb eines halben Jahres in ihrer „winzigen“ Einrichtung mit 5,7 Personalstellen angestoßen wurde.

Manchmal bringt ein kleiner Stein eine ganze Lawine zum Rollen. In diesem Fall beginnt es damit, dass Anja Rudolf im Sommer 2023 bei einem Treffen zufällig genau neben der Vertreterin des baden-württembergischen Volkshochschul-Verbandes sitzt, die für Erasmus+-Projekte zuständig ist. „Ich hatte damals nicht auf dem Schirm, dass Erasmus+ auch für Bildungsträger der Erwachsenenbildung möglich ist“, so Rudolf. Dabei passen, wie sich herausstellt, ihre Ideen hervorragend in den Rahmen. Beim darauffolgenden Beantragen hilft der erfahrene Verband. Dann geht es Schlag auf Schlag: Schon bald können die ersten Austausch-Projekte in Zusammenarbeit mit europäischen Partnern anlaufen. Über ihre Wirkung sowohl auf die teilnehmenden Menschen wie auf das VHS-Angebot insgesamt sagt Rudolf: „Ich bin fasziniert von den Möglichkeiten.“

Die Erfahrung machen: „In anderen europäischen Ländern ticken die Menschen wie wir.“

Schon im Herbst machen sich 30 Teilnehmende aus Rottweil auf, um ihre Partnerstadt Imst in Tirol zu besuchen. „Die jüngste 17, der älteste 83 Jahre“, so Anja Rudolf. Sie kommen mit Imster Stadtvertretern und -vertreterinnen über Themen ins Gespräch, die auch sie bewegen: Integration, Tourismus, Fastnacht. Sie stellen schnell fest: „Die Zukunft unserer Heimatstädte bewegt uns alle gleichermaßen“.

Rudolf geht es um mehr als darum, dass „nette Rottweiler und Rottweilerinnen nette Menschen aus Imst kennenlernen“, wie sie sagt. Beim Austausch mit anderen europäischen Ländern machen die Teilnehmenden die Erfahrung, dass sich die Menschen dort weniger von ihnen unterscheiden als angenommen. „Das baut Brücken und schafft Verständnis“, so Rudolf. Erasmus+-Projektreisen in andere Partnerstädte wie Hyères in Südfrankreich und L‘Aquila in Süditalien folgen bald.

Empowerment erleben: Sich der eigenen Fähigkeiten bewusst werden

Es sei bewegend, zu erleben, wie sich schon das kurzfristige Eintauchen in andere europäische Kulturen auf das Selbstbewusstsein der Teilnehmenden auswirke, freut sich Rudolf. Eine Gruppe Seniorinnen aus einem Englisch-Sprachkurs beispielsweise inspirierte der Erasmus+-Aufenthalt im irischen Dublin dazu, aus eigenem Antrieb und ehrenamtlich ein wöchentliches Sprachcafé anzubieten, bei dem sich seitdem rund fünfzehn bis zwanzig Menschen unterschiedlicher Herkunft bei Tee und Kaffee austauschen. „Die älteren Damen haben im Ausland selbst gespürt, wie wichtig das Miteinander sprechen können im Alltag ist. "Im Sprachcafé erleben sie zudem, dass sie selbst die Fähigkeiten haben, anderen etwas zu weiterzugeben“, so Rudolf.

Eine Sprache so vermitteln, dass man miteinander ins Gespräch kommen kann

Anja Rudolf selbst ist beim Erasmus+-Austausch mit dem VHS-Online-Italienisch-Lehrer in Turin in Italien klar geworden, dass die Sprachkurse der VHS anders aufgesetzt werden müssen, um ein tieferes kulturelles und politisches Verständnis für das Gegenüber entwickeln zu können. Seitdem spielen Konversationskurse eine größere Rolle in der Sprachvermittlung. Beim Erasmus-Austausch im französischen Hyères kann eine VHS-Mitarbeiterin ihr Französisch aufbessern und dieses Wissen direkt in einem Konversationskurs einsetzen.

Aus der einen Idee entsteht schnell wie im Schneeballverfahren eine neue: So wurde ein Konversationskurs „D’ English at Rottweil“ ins Leben gerufen, bei dem jeweils zunächst kurz auf Deutsch, dann auf Englisch über ein politisches Thema gesprochen wird.

Nicht Bildung von „oben", sondern Teilhabe

Politik spielt im Jahr der Wahlen ohnehin eine große Rolle in Rottweil. Wozu soll ich wählen gehen, wie sehen Stimmzettel aus, was bieten Parteien in ihrem Programm an? 2024 liegt der inhaltliche Fokus der VHS Rottweil in vielen Veranstaltungen auf der anstehenden Europawahl sowie der Kommunalwahl in Baden-Württemberg: Besonders junge Leute will die VHS erreichen. Die 19-jährige Lara Sauter, die ihr freiwilliges soziales Jahr an der VHS absolviert, sucht aktiv den Kontakt zu ihnen, um ihre konkreten Wünsche in das VHS-Angebot einfließen zu lassen, auch was die Wahlen betrifft. „Jugendliche kommen meist nicht von selbst“, sagt Sauter. Das werde anders, wenn sie mitentscheiden könnten und ihre Interessen vertreten sähen.

„Die Art, wie wir Bildung vermitteln, hat vielleicht nicht ausgereicht“, vermutet Anja Rudolf. Die Möglichkeit zur aktiven Teilhabe spielt deshalb eine wichtige Rolle im Bildungsverständnis der VHS: sich selbst zu informieren und nicht von einer Institution wie der VHS „von oben“ gebildet zu werden. Nur allzugern hat Rudolf deshalb einen weiteren Erasmus+-Antrag gestellt, dieses Mal für eine Reise eines C1-Integrationskurses nach Wien. Die Kursteilnehmenden hatten eigeninitiativ vorgeschlagen, ihre Deutschkenntnisse im Austausch mit österreichischen Vertreterinnen und Vertretern anzuwenden und vor Ort zu erfahren, wie Integration im Nachbarland verläuft.

Der Fokus „Demokratiebildung, Teilhabe und Vielfalt“ sei durch die vielen Erasmus+-Projekte noch einmal deutlich gestärkt worden, so Rudolf. Warum beispielsweise wählen zunehmend Menschen rechts? Diese Frage bewegt Rudolf und ihre Mitreisenden auch, wenn sie mit Erasmus+ in die Niederlande nach Amsterdam reisen, um sich mit der Idee Karls des Großen, Bildungsideen- und Idealen, aber auch Raubkunst und Kolonialismus zu beschäftigen und um vor Ort in Erfahrung zu bringen, weshalb so viele Niederländer rechts gewählt haben.

Tipps für andere „kleine" Volkshochschulen

„Wo sind wir noch nicht gut aufgestellt, was könnte uns als VHS weiterbringen?" Anja Rudolf findet es wichtig, dass es der VHS insgesamt und nicht nur einzelnen Teilnehmenden nutzt, wenn sie Erasmus+-Projekte beantragt. Sie selbst hat gute Erfahrungen damit gemacht „fantasievoll zu spinnen“, Ideen zu entwickeln und diese mit dem zuständigen Verband zu besprechen, der weiß, was förderfähig ist und der die kleineren Institutionen bei der Antragstellung unterstützt. Zugleich versucht sie, alle Mitarbeitenden ihrer Organisation ins Boot zu nehmen, denn die Erasmus+-Projekte bedeuten mehr Arbeit für alle, „das muss man ehrlich sagen", so Rudolf. Wer jedoch auch als Hausmeister oder Verwaltungskraft die Möglichkeit hat, selbst ein Teil des Ganzen zu sein, ins europäische Ausland zu reisen, um mit neuen Erfahrungen bereichert zurückzukommen, der übernimmt diese Arbeit gern. Auf diese Weise könnten die Projekte für alle ein „unvorstellbarer Gewinn“ werden, so Rudolf.