In der Hauptstadt der Digitalisierung - Angehende Fachinformatikerin war für drei Wochen im estnischen Tallinn

Text: Manfred Kasper, Fotos: Charlotte Oelkers, Juni 2023

Vom 26. August bis zum 18. September 2022 konnte Charlotte Oelkers Einblick in die Welt eines fortschrittlichen Digitalstaates gewinnen. Im Rahmen ihrer Ausbildung absolvierte die Fachinformatikerin für Anwendungstechnik ein dreiwöchiges Praktikum in einem IT-Betrieb in der estnischen Hauptstadt Tallinn. Eine Zeit, die ihr nicht nur fachlich viele neue Anregungen brachte.

Anfang Juni hat Charlotte Oelkers ihre Ausbildung zur Fachinformatikerin für Anwendungsentwicklung an den Berufsbildenden Schulen Soltau (BBS Soltau) erfolgreich abgeschlossen. In ihrem letzten Ausbildungsjahr nutzte die 25-Jährige die Chance, über Erasmus+ für ein Auslandspraktikum nach Tallinn zu gehen. Doch warum gerade Estland? Es gab verschiedene europäische Länder, die Charlotte Oelkers interessierten, letztlich habe sie sich für Estland entschieden, weil sie die innovativen Ansätze in Sachen Digitalisierung reizten und sie das Land und die Region bis dato überhaupt nicht kannte.

„Da war auch ein bisschen Neugier im Spiel, ich wollte einfach wissen, was in den baltischen Staaten passiert und wie man dort lebt und arbeitet“, sagt sie, und ergänzt: „In Estland werden rund 99 Prozent der behörlichen Dienstleistungen online abgewickelt. Das reicht von der elektronischen Stimmabgabe bei Wahlen bis zum Einreichen der Steuererklärung. Der Alltag ist hier größtenteils digital organisiert“ Da das Ganze sehr sicher und transparent ablaufe, sei die Akzeptanz in der Bevölkerung groß. Oelkers glaubt, dass Estland genau deshalb in gewisser Weise auch für uns als Vorbild dienen könne, wenngleich das Land mit seinen insgesamt 1,3 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern noch nicht einmal so bevölkerungsstark sei wie München. Gut ein Drittel der Estinnen und Esten lebt in Tallinn.

Charlotte Oelkers auf dem Freiheitsplatz in Tallinn (© Oelkers).

Ausschnitt des Büros von TrumpIT, in dem Charlotte gearbeitet hat (© Oelkers).

Familiäre Atmosphäre und interessante Projekte

Oelkers zeigt sich vor allem von der digitalen Infrastruktur des Landes beeindruckt, wenngleich sie im Rahmen ihres Praktikums eher mit klassischen IT-Aufgaben beschäftigt war. Sie erzählt: „Ich habe in einem relativ kleinen Betrieb gearbeitet, wir waren insgesamt knapp zehn Leute. Das war gut für mich, weil es familiär zuging und ich nah an den einzelnen Projekten war. Hinzu kam, dass mir sehr viel Vertrauen entgegengebracht wurde und ich recht eigenständig agieren konnte.“

Inhaltlich reichte das Spektrum von IT-Services bis zur Programmierung von Webanwendungen und anderen Applikationen. Obwohl sie dabei auch neue Aspekte kennenlernte, räumt Oelkers ein, dass die Abläufe in der Webentwicklung sich in der Regel an internationalen Standards orientieren. Mindestens ebenso spannend sei daher der Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen gewesen, der vor allem in Englisch ablief, während die Gespräche in Alltagssituation ab und an nur in Estnisch oder Russisch möglich waren, was sehr viel Improvisationstalent verlangte.

Charlotte Oelkers lacht, als sie das erzählt. Es ist geradezu spürbar, wie bereichernd die Zeit in Estland für sie war. Gelebt hat sie in einem kleinen Appartement am Rande der malerischen Altstadt, von wo sie in 15 Minuten zu Fuß zu ihrer Arbeit laufen konnte. „Das Faszinierende war für mich das Gesamtpaket“, berichtet die 25-Jährige. „So haben wir bei der Arbeit viel über das digitale Estland, aber auch über die aktuelle politische Situation und kulturelle Fragen geredet. Gerade in diesen Bereichen habe ich viel Neues entdeckt – zum Beispiel, dass Bären und Wölfe in Estland auf der Speisekarte zu finden sind.“

Vor allem die Vielfalt des Landes hat Oelkers überrascht, zumal das Wissen über die osteuropäischen Länder bei uns oft ja recht überschaubar sei. So weise Estland eine enge Beziehung zu Deutschland auf, gleichzeitig aber sei die Grenze zu Russland nicht weit. Letzteres stelle angesichts der weltpolitischen Lage derzeit eine eher schwierige Situation dar. Dazu Charlotte Oelkers: „Interessant für mich war, wie eng die Welten manchmal beieinander liegen, und wie weit sie dann doch voneinander entfernt sind.“

Strand im Norden von Tallinn (© Oelkers)

Auf dem Wasser bei Haapsalu mit dem Boot von Charlottes Chef (© Oelkers).

Von Sommerfrische bis Nationalmuseum

Apropos Welten. Neben der Arbeit hat Charlotte Oelkers auch sehr viel von Land und Leuten erfahren. Mit ihrem Chef und dessen Familie tauchte sie tief in die Natur und Kultur Estlands ein – von Bootstouren und Sommerfrische bis zum Besuch des Nationalmuseums und zum Genuss der estnischen Küche. Auch ein Ausflug nach Keava stand auf dem Programm. Die dortige Berufsschule ist eng mit der BBS Soltau verbandelt und hatte Oelkers zu ihrem Praktikumsplatz verholfen. Bei ihrem Kurztrip nach Keava konnte die Fachinformatikerin sogar an einer Unterrichtseinheit teilnehmen und hinter die Kulissen des estnischen Berufsschulsystem schauen.

All das habe ihren Horizont sehr erweitert und ihr deutlich gemacht, wieviel sie schaffen könne, wenn sie die Dinge selbst in die Hand nehme. Manchmal sei es einfach gut, selbst „Ausländerin“ zu sein, so Oelkers. Das verändere die Perspektive und eröffne völlig neue Sichtweisen. Vor diesem Hintergrund legt sie auch anderen Azubis nahe, die Chance zum Auslandsaufenthalt während der Ausbildung zu nutzen.

Beruflich möchte sie selbst künftig gerne mit internationalem Bezug arbeiten und dabei vielleicht auch noch einmal „die Hauptstadt der Digitalisierung“ in den Fokus nehmen. Von den Ideen dort ließen sich viele auch in Deutschland umsetzen, glaubt sie. Hinzu komme, dass sie in den drei Wochen, die sie in Tallinn verbrachte, gespürt habe, wie bereichernd es sein könne, Internationalität zu leben und im Dialog mit anderen Ländern und Kulturen zu sein.