Ländliche Regionen in Europa: Gemeinsam nachhaltige Lösungen finden

Text von Julia Göhring | Dezember 2022

In der Umgebung der Kleinstadt Odemira im Südwesten Portugals reifen in endlosen Reihen Beeren unter weißen Folien. erstrecken sich Plastiktunnel bis an den geschützten Küsten-Naturpark. Eukalyptusplantagen haben Kork- und Steineichen-Wälder mancherorts verdrängt. Beeren und Bäume entziehen dem Boden Wasser und stellen so die traditionelle Landwirtschaft vor Probleme. 

In einem Waldstück in dieser Gegend begutachten Menschen aus dem äußersten Nordosten Deutschlands interessiert die Setzlinge unterschiedlicher Baumsorten. Die ehemalige Eukalyptusplantage wird renaturiert und ein portugiesischer Experte erläutert ihnen die Bedeutung der Pflanzungen für das natürliche Ökosystem. Später wird ihnen ein Landwirt der Gegend von seinen Wasserproblemen berichten und sie besichtigen den Stausee, der für diese Entwicklung mit verantwortlich ist. Der Besuch einer Delegation aus Mecklenburg-Vorpommern in der Region um Odemira ist Teil eines Austauschprojektes. 

Wir Europäer stehen vor ähnlichen Herausforderungen

Den Besucherinnen und Besuchern aus Deutschland sind derartige Probleme nicht fremd. Sie sind ein Grund für ihren Besuch, denn Monokulturen und Wassermangel sind auch in der offenen Landschaft des Dorfes Rothenklempenow, in der sich riesige Getreidefelder bis an den Horizont ausdehnen, ein Thema. Die Herausforderungen, mit denen sich diese Region konfrontiert sieht, ähneln denen in Portugal: Junge Menschen ziehen fort und der Klimawandel bringt vermehrt Dürren. Die Gemeinden sind auf der Suche nach zukunftsfähigen Konzepten für Landwirtschaft und Tourismus. Gleichzeitig liegt auch diese Region in einem geschützten Naturpark, dem Stettiner Haff.

Zu Besuch der Statue „Mutter Erde“ mit den „10 Geboten der Nachhaltigkeit“.

Foto: Anja Henckel

Besuch eines kleinen Landwirtschaftsbetriebs mit Gärtnerei und Direktvermarktung, welcher betroffen ist von der Abzwackung des Wassers für die Agrarindustrie

Foto: Anja Henckel

Erprobte Konzepte der anderen kennenlernen

Jeweils vier Tage besuchten sich Delegationen aus den Ländern gegenseitig, „vier Tage vollgepackt mit Input und Inspiration“, so Tobias Keye. In Rothenklempenow haben sich vor einigen Jahren ökologische Landwirtschaftsbetriebe und Bio-Food-Start-Ups angesiedelt, was dem Ort den Beinamen „Bio Start-up Dorf“ eingebracht hat. Außerdem gibt es dort seit 2017 ein von der Universität der Vereinten Nationen anerkanntes Kompetenzzentrum für Bildung für nachhaltige Entwicklung, das RCE Stettiner Haff (RCE = Regional Center for Expertise on Education for Sustainable Development). Keye sitzt dessen Trägerverein vor.

Das RCE hat bereits verschiedene Bildungsformate für nachhaltige Entwicklung auf den Weg gebracht. So gibt es in Rothenklempenow einen sogenannten „Weltacker“ mit einer Fläche von 2000 m2. Dies ist die Zahl, die sich ergibt, wenn man die weltweite Ackerfläche durch die Zahl der Menschen auf der Erde teilt. Durch das pädagogische Konzept des Weltackers soll veranschaulicht werden, dass auf dieser Fläche theoretisch alles wachsen muss, was ein einzelner Mensch verbraucht. In Rothenklempenow sind exemplarisch die wichtigsten Kulturpflanzen weltweit angebaut. In Führungen und Workshops informiert das RCE zum Beispiel Schülerinnen und Schüler sowie Kindergartenkinder über die Möglichkeiten nachhaltiger Landwirtschaft. 

Anja Henckel hat für das RCE ein Residenzprogramm für Stipendiatinnen und Stipendiaten mit entwickelt. Dieses gibt jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die Möglichkeit, zu ökologisch-ökonomischen Fragestellungen in Rothenklempenow und zukünftig auch an weiteren Standorten zu forschen und an die Regionen angepasste Konzepte zu testen. Das Residenzprogramm soll Ortsverantwortliche in die Lage versetzen, mehr Engagement für die dringende Wiederherstellung von Ökosystemen zu zeigen. Anja Henckel engagiert sich zudem in Portugal für das Regenerationsprojekt „Jardim do Mira“ entlang des Flusses Mira. Dort gib es wiederum Erfahrungen mit Weide- und Wiederaufforstungskonzepten, die Biodiversität befördern und natürliche Ökosysteme unterstützen und somit auch für die deutschen Delegationspartnerinnen und -partner interessant sind. Jardim do Mira war Partnerorganisation des RCE Stettiner Haff in Portugal.

Vielfältige Zugänge für Austausch auf Augenhöhe schaffen

Die Treffen der Partner waren so angelegt, dass die Teilnehmenden auf unterschiedlichen Ebenen in den Austausch kommen konnten. Neben Exkursionen und internen Treffen der Delegationen gab es in Portugal etwa eine öffentliche Veranstaltung, die gemeinsam gestaltet wurde. Auf diesem „Mercado Mira“ mit Marktständen, Musik und Workshops hielten die deutschen Teilnehmerinnen und Teilnehmer Vorträge. Zusätzlich waren portugiesische Expertinnen und Experten, etwa aus den Bereichen Tourismus und Produktentwicklung, eingeladen. Aber auch gemeinsame Abendessen seien wichtig gewesen, so Keye. Eben diese Mischung aus Verbindlichkeit und Unverbindlichkeit hätte sehr gut funktioniert, um Kontakte auf Augenhöhe herzustellen, berichtet Anja Henckel. Die Flexibilität der „Kleineren Partnerschaften“ sei dabei sehr hilfreich für die Durchführung des Projektes gewesen, betont sie. Zudem hätten sie auch neue Dialogformate wie eine von dem Ökonomen Otto Scharmer entwickelte Change-Management-Methode, der Theory U, ausprobiert, um sicherzustellen, dass alle zu Wort kommen, „auch der oder die Leiseste“. Diese Formate hatten Anja Henckel und Tobias Keye im Rahmen des EU Climate Pact Ambassador Programms gelernt und auf den Austausch angepasst

Inspiration in Aktion umwandeln

Der Gegenbesuch der portugiesischen Delegation in Rothenklempenow sei „der gleichen Logik“ gefolgt, erzählt Keye. Er sei eingebettet gewesen in die europäische Nachhaltigkeitswoche des RCE. „Der Austausch wird in beiden Standorten hoffentlich die Folge haben, dass Aktionen daraus entstehen“, so Keye. Daher hätten sie sich am Ende des Treffens in Rothenowklempenow auch konkret gefragt: Was sind die nächsten Schritte? „Wir brauchen hier auch einen Weltacker“, sei etwa ein Gedanke der portugiesischen Partner gewesen. Dabei sei bei der Umsetzung neuer Ideen wichtig, jeweils das Positive der Regionen zu nutzen. So wäre ein Weltacker in der Mira-Gegend anders als in Rothenklempenow als Teil eines traditionellen Bauernhofes im Familienbetrieb denkbar, weil es diese Kleinbauernhöfe dort noch gäbe, erklärt Henckel. Auch herauszufinden, wie Odemira und Rothenklempenow Partnergemeinden werden könnten und mit den Bürgermeistern Kontakt aufzunehmen, sei ein Vorhaben. Und für eine nächste Förderrunde ist bereits geplant, das erfolgreiche Residenzkonzept für junge Forscherinnen und Forscher in Rothenklempenow und der Mira-Region zu etablieren. Entsprechende Mentoren haben sich in der portugiesischen und deutschen Delegation bereits gefunden. 

Führung zum Thema Baumvielfalt in der Stadt Odemira

Foto: Anja Henckel

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