Fertigungsstraße (© Thorsten Krämer)
Wie bekommen wir die Industrie 4.0 in die Schule? Für das Berufskolleg Technik in Siegen sucht der Berufsschullehrer Thorsten Krämer gemeinsam mit Berufsschulen in den Niederlanden nach Antworten.
Text von Julia Göhring | Oktober 2022
Industrie 4.0 als Herausforderung für berufliche Schulen
Fachkräfte für die Zukunft der Industrieproduktion auszubilden, ist eine große Herausforderung für berufliche Schulen. Dies wurde Thorsten Krämer schnell deutlich, nachdem sein Schulleiter mit der Bitte auf ihn zugekommen war, sich des Themas anzunehmen. Einerseits ergab Krämers Recherche, dass unter dem Stichwort „Industrie 4.0“ unterschiedliche Vorstellungen kursieren. Andererseits sind diese Konzepte einer digitalisierten, „intelligenten“ Fabrik, in der Computer und Maschinen miteinander sowie den Konsument*innen kommunizieren und sich gegebenenfalls sogar selbst optimieren, in vielen Ausbildungsbetrieben kein Standard, sondern eher ein Entwicklungsziel.
Am Modell der Zukunft lernen
Dennoch können Azubis der industriellen Metall- und Elektroberufe am Berufskolleg Technik in Siegen heute schon die künftige Industrie 4.0 erproben. Denn nachdem sich Fachleiter Krämer informiert hatte, sorgte er für die Anschaffung einer modellhaften Lehranlage. Diese besteht aus einer Fertigungsstraße und Rechnern, von denen aus diese gesteuert wird. Konkret entwerfen Azubis einen Fertigungsprozess für einen Powerbank-„Dummie“, dabei werden Förderbänder und Roboter programmiert um zu „messen, labeln, bohren, kleben und die Platine einzulegen“, erzählt Krämer.
Das Besondere dabei ist: Alle diese Prozesse werden in einem „virtuellen Zwilling“ der Anlage zunächst auf dem Rechner geplant. Mit einem Schüler hat Berufsschullehrer Krämer zudem einen Sensor für die Powerbank-Dummies entwickelt, der Daten zu Temperatur und Beschleunigung liefert. „Erhöhte Temperaturen lassen etwa auf Reibung schließen“, erklärt Krämer. „So kann man zum Beispiel vorhersagen, ob die Anlage morgen ausfällt. Die Schüler lernen am Modell wie Industrie 4.0 optimalerweise funktioniert.“
Entwicklung durch Austausch
Um die Lehre für die Industrie 4.0 am Berufskolleg weiterzuentwickeln, ist es für Krämer wichtig, Ideen und Erfahrungen zu teilen. Seit dem Herbst 2021 tauscht er sich im Rahmen eines Erasmus+-Projektes mit Berufsschulen einer niederländischen Region aus, im März 2022 besuchte er niederländischen Berufsschulen. Den Kontakt in die Niederlande vermittelte die Europa-Geschäftsstelle der Bezirksregierung Arnsberg.
Auch an den niederländischen Berufsschulen gibt es Lehranlagen für die Industrie 4.0. Aber anders als die Siegener Azubis lernen die niederländischen Schüler*innen, in dem sie die gesamten Anlagen selbst aufbauen, Sensoren einsetzen und programmieren. „Dafür haben sie aber auch acht Monate Zeit“, betont Krämer, denn in den Niederlanden findet die Ausbildung überwiegend in der Berufsschule statt, mit begleiteten Praktika in den Betrieben. „Diese Zeit gibt es in Deutschland nicht“, bedauert der Berufsschullehrer. Aber: „Weil unser Modell mit weniger Zeit auskommt, können alle unsere 1200 Schüler*innen aus dem industriellen Metall- und Elektrobereich diese Technologie kennenlernen.“
Gemeinsam Aufgaben in virtuellen Projekten lösen
Gerade haben er, der didaktische Leiter Stefan Weidmann und die niederländischen Kolleg*innen ein gemeinsames virtuelles Projekt eingerichtet, in dem Schülerteams auf beiden Seiten eine Fertigungsstraße mit Sensorik auf dem Rechner einrichten müssen. Ihre Ergebnisse sollen sie sich auf einem virtuellen Treffen im November 2022 gegenseitig präsentieren. „Dabei ist es schon eine Herausforderung für unsere Schüler und Schülerinnen, eine Präsentation auf Englisch durchzuführen.
Durch die reale berufliche Situation können die Lernenden ihre fremdsprachlichen Kenntnisse allerdings einsetzen und verbessern“. In diesem ersten Schritt können die Schüler und Schülerinnen sich annähern. Für 2023 planen Krämer und seine niederländischen Partner auch einen persönlichen Austausch von Schüler*innen. Auch internationale virtuelle Schülerteams sind in Zukunft für Krämer vorstellbar. So gesehen sei das Erasmus+-Projekt auch ein Schub für die Digitalisierungsstrategie des Berufskollegs Siegen. Denn Digitalisierung bedeutet für den Lehrer in Hinblick auf Industrie 4.0 nicht nur, die Technik bereitzustellen, sondern vor allem auch die digitalen Möglichkeiten für einen konstruktiven Austausch von Ideen und Daten für die kreative Zusammenarbeit von Teams zu nutzen.
Ausprobieren ist erlaubt!
Ansonsten beschreibt Krämer als „kleines Paradies“, was er bei einem Besuch in Doetinchem an Lernstrukturen gesehen hat. „In niederländischen Berufsschulen ist alles vernetzt, überall WLAN, Netzzugänge, alle Schüler*innen haben ihr eigenes Notebook. Über diese Geräte wird alles abgewickelt, Schüler und Schülerinnen planen, skizzieren, präsentieren“, schwärmt Krämer. Lernen könne man von den Niederländern auch, positiv an eine neue Aufgabe heranzugehen, einfach anzufangen. Bei Rückschlägen würden die Niederländer ihr Vorgehen dann anpassen.
„In Deutschland werden oft erst die Probleme besprochen, theoretisch bearbeitet und das wird dann noch verschriftlicht“, beschreibt Krämer die Unterschiede. So sei in den Niederlanden beispielsweise die Lehre für Industrie 4.0 zunächst von Fachleuten aus verschiedenen Abteilungen abgedeckt worden. Aber der Bereich habe sich nicht gut entwickelt, da sich alle Experten und Expertinnen nach wie vor ihrer Fachgruppe, etwa der Elektrotechnik oder Informatik, zugehörig gefühlt hätten, weniger der Industrie 4.0. Daraufhin habe man Teams zusammengesetzt, in denen Lehrende unterschiedlicher Fachbereiche ausschließlich Industrie 4.0 unterrichteten. Es sei bereichernd für die eigene Lehre gewesen, diese grundsätzlich unterschiedliche Herangehensweise der niederländischen Partner an Projekte kennenzulernen.