Azubi meets Science Fiction - DIGI4VET erprobt digitale Technologien für die Ausbildung in Industrie und Handwerk

Wie können digitale Technologien wie Datenbrille, virtuelle Realität und 3-D-Druck sinnvoll in der Ausbildung eingesetzt werden? Das Erasmus+-Projekt DIGI4VET hat Anwendungsszenarien für die Ausbildung in der Chemie-, Maler- und Floristikbranche entwickelt.

Suchend blickt Johanna Nixdorf auf ein Gewirr von Schläuchen, Ventilen und Rohren. Die Auszubildende zur Chemikantin steht in einer Lehranlage. Ein Schlauch hat sich von einer Pumpe gelöst, sie soll ihn austauschen. Johanna trägt eine Datenbrille. Plötzlich erscheint ein Pfeil vor ihren Augen. „Das war schon cool“, erzählt Johanna. Denn jetzt sieht sie deutlich, wo sie den Schlauch befestigen muss. Der Pfeil wird von Johannas Ausbilder gesteuert, der sich außerhalb der Anlage befindet. Mittels einer Kamera in der Brille kann er Johannas Blickfeld verfolgen, seine Eingaben am Rechner wiederum werden in das Display der Brille projiziert.

Digitalisierung ist auch in der Ausbildung ein Thema

Johanna ist zu diesem Zeitpunkt Auszubildende an der Sächsischen Bildungsgesellschaft für Umweltschutz und Chemieberufe (SBG) in Dresden. Jens Hofmann, dort für Bildungsprojekte zuständig, weiß, dass es für Azubis attraktiv ist, moderne digitale Geräte in der Ausbildung auszuprobieren. Für ihn einer der Gründe, warum Ausbildungsstätten nach Wegen suchen, digitale Technologien sinnvoll in die Ausbildung zu integrieren. Hier ist es die sogenannte Augmented Reality (AR), „erweiterte Realität“, wo digitale Elemente in die reale Welt eingefügt werden – wie etwa ein Pfeil in das Blickfeld einer Datenbrille. „Industrie- und Handwerksunternehmen suchen Nachwuchs“, weiß Projektleiter Hofmann, „und wenn Sie mit so einer Brille auf eine Messe gehen, rennen die Auszubildenden Ihnen quasi die Bude ein“. Aber auch in modernisierten Ausbildungsverordnungen ist die Digitalisierung bereits elementar, zum Beispiel in Form von spezialisierten Wahlpflichtmodulen. Wie diese Anforderungen umgesetzt werden können, fragen sich nicht nur die Ausbilderinnen und Ausbilder in Deutschland. Für das Projekt DIGI4VET suchte Hofmann daher europäische Partnereinrichtungen, die vor ähnlichen Fragestellungen stehen. Er fand Partner für die Malerinnen- und Malerausbildung in Belgien und die Ausbildung zu Floristinnen und Floristen in den Niederlanden.

Trockenübungen mit VR-Brille sparen Material und festigen Abläufe

Eine Auszubildende zur Malerin steht in einem schmucklosen, leeren Raum. Sie trägt eine sogenannte VR-Brille (Virtual Reality) und hält Controller in beiden Händen. Es ist zu beobachten, wie sie scheinbar sinnlos Armbewegungen ins Leere macht. Die junge Frau sieht: einen Raum, der für einen Farbanstrich vorbereitet werden muss – die virtuelle Umgebung, die für diese Übung mit einer VR-Brille programmiert wurde und jetzt im Display der Brille simuliert wird. Konzentriert wählt die Auszubildende die Werkzeuge aus, verspachtelt virtuell die Wand, trägt Grundierung auf, zuerst in den Ecken. Ihre Bewegungen werden von Sensoren und Kameras in Controllern und Brille in die virtuelle Realität übertragen.

Video einer Ausbildungssituation (Achtung, Sie verlassen das Angebot der NA beim BIBB)

„Welches Szenario macht Sinn? Kann man es niederschwellig gestalten? Wie sehen die Praktiker das?“, dies seien die Fragen gewesen, die sich die Projektpartner gestellt hätten, erzählt Hofmann. Die Ausbilderinnen und Ausbilder im Malerhandwerk wussten etwa: Farbe kann sehr teuer sein, Tapete auch – eine Trockenübung vor dem Streichen ist daher sinnvoll. Anhand der Übung können die Ausbildenden überprüfen, ob die Auszubildenden die Abläufe, die Vorbereitung und die Auswahl der Werkzeuge beherrschen – bevor es ernst wird. „Die werden ja gar nicht schmutzig“, scherzte ein Ausbilder.

Die VR-Anwendung wurde vom Technologiepartner in Zypern programmiert, „maßgeschneidert“ betont Hofmann. Auch hier zeigte sich, dass die Abstimmung mit den Praktikern sehr wichtig war, etwa, um die Art der Pinsel im Programm richtig darzustellen. Das Programm kommt bei den Malerinnen und Malern, bei den Azubis und Ausbildenden sehr gut an. Fünf Schulen in Belgien haben es bereits übernommen.

Video einer Ausbildungssituation (Achtung, Sie verlassen das Angebot der NA beim BIBB

„Didactics first, technology second“

„Didactics first, technology second“ auf diese Formel bringt es Hofmann, wenn er erläutert, was sich als wichtig für die Planung von digitalen Modulen in der Berufsausbildung erwiesen hat. „Alles hängt von der pädagogischen Fragestellung ab“, betont er. „Nicht etwa zu fragen `Macht die Brille Sinn?´, sondern `Wo macht die Brille in der Ausbildung Sinn?´“

Johanna Nixdorf und ihre Mit-Azubis übten das Hochfahren einer Chemieanlage mit Hilfe von Datenbrille und Kopfhörer. „In einer mehrstöckigen Anlage versteht man nicht mehr, was einem jemand zuruft“ erklärt sie. Mit der Datenbrille war der Ausbilder virtuell an ihrer Seite, um zu erklären, welche Ventile in welcher Reihenfolge aufgedreht werden müssen. Dies ist wörtlich zu verstehen: Das Videobild des Ausbilders „befestigte“ Johanna virtuell an einem Türrahmen im Raum, dem sie sich jederzeit wieder zuwenden konnte. Entsprechende Bewegungen von Daumen und Zeigefinger vor der Datenbrille werden von einer Kamera ausgelesen.

In der Florist*innen Ausbildung beim niederländischen Partner entwarfen die Auszubildenden unter anderem Halterungen für Blumengebinde, die dann mit einem 3-D-Drucker gedruckt wurden.

In der Ausbildung auf die digitale Zukunft in Unternehmen vorbereiten

Auch Jens Hofmann und Johanna Nixdorf wissen, dass sich manche Ausbildungsszenarien mit digitaler Technik nicht direkt in die Berufspraxis übersetzen lassen. In als explosionsgefährdet eingestuften Anlagen etwa, in denen Johanna heute als fertige Chemikantin arbeitet, dürfen keine Datenbrillen eingesetzt werden.

Die Anlagen aber steuert Johanna bereits heute vom Computer aus. Ihrem Unternehmen hat sie vorgeschlagen, die Schicht-Übergabe-Dokumente zu digitalisieren und zukünftig auf Tablets zu protokollieren. Und für Jens Hofmann ist klar: „Die großen Technologieunternehmen investieren heute sehr viel Geld in ihre Produktpalette wie AR- oder VR-Brillen. Dies wird Auswirkungen auf jeden von uns haben, nicht nur auf Arbeit und Ausbildung. Die Technik ist gekommen, um zu bleiben.“

Text von Julia Göhring (September 2022)