Beyond 55 - Neue Perspektiven für Menschen jenseits der Lebensmitte mit Erasmus+

Text: Christina Budde, Fotos: beyond 55/Kulturring in Berlin e. V., Mai 2025

Die eigene Kreativität zu entdecken und selbstbewusst mit digitalen Medien umzugehen, kann Menschen in Umbruchsituationen unterstützen: Einen konkreten Ansatz für die Erwachsenenbildung haben der Kulturring in Berlin e.V. und die Volkshochschule Öland in Schweden im gemeinsamen Erasmus+ Partnerschaftsprojekt „beyond fifty five“ entwickelt und in 98 Workshops erprobt.

Mick Jagger an der Currywurstbude in Kreuzberg, der Kampf der „Titanen“ ausgetragen von einem Wisch- und einem Staubsaugerroboter, Wissenschaftler, die ein Mittel erfinden, das Gliedmaßen nachwachsen lässt und vieles mehr: Wer die Kurzvideos auf YouTube anschaut, die die Teilnehmenden des Projekts „beyond fifty five“ mithilfe Künstlicher Intelligenz produziert haben, ist beindruckt von den vielen witzigen Ideen und der technischen Umsetzung. „Zu sehen, wie sich unsere Leute während des Projektes entwickelt haben, war für mich beeindruckend,“ sagt Workshop-Leiter Felix Hawran vom Kulturring in Berlin e. V.

Denn am Anfang standen Zögern, Unsicherheit, Vorsicht. Viele der Teilnehmenden waren schon länger nicht mehr erwerbstätig, fühlten sich teilweise sozial isoliert und zugleich von der schnellen Entwicklung der digitalen Medienwelt abgeschnitten: als Rentner:innen auf der schwedischen Insel Øland oder als Arbeitssuchende im großstädtischen Berlin. „Wir mussten erst mal die Basis schaffen, nämlich Vertrauen zu den beteiligten Menschen genauso wie in die eigene Fähigkeit, den Umgang mit digitalen Medien erlernen zu können“, so Hawran. So entstanden am Anfang kleine einfache Kennenlernvideos, mithilfe derer sich zunächst die schwedischen Teilnehmerinnen und Teilnehmer in zwei Sätzen vorstellten. „Wenn diese netten Leute das können, versuchen wir es auch mal,“ dachten sich die Berliner Teilnehmenden und fassten Mut – der erste Schritt war getan.

Blick auf Berlin

Blick auf Øland

Im Mittelpunkt: persönliche Geschichten

Es war dann nicht mehr so schwer, sich auf die nächste Etappe einzulassen, den „Room with a view“: Fotos vom Ausblick aus dem Fenster des eigenen Zuhauses zu machen und diese zu vergleichen: Was sehe ich in der ländlichen Umgebung Ølands, was im urbanen Umfeld Berlin-Friedrichshain-Kreuzbergs? Auch, wenn sich die schwedischen und deutschen Teilnehmenden nicht persönlich kennenlernten, halfen die Fotos, Unterschiede und Gemeinsamkeiten in den Lebensrealitäten wahrzunehmen.

„Wir wollten nicht nur Medienkompetenz vermitteln, sondern auch zum Nachdenken darüber anregen, wer man ist, woher man kommt und wohin man gehen will,“ erklärt Felix Hawran. Geschichten der eigenen Biografie mit anderen zu teilen und zu besprechen, sollte zudem die Kommunikation untereinander anregen und das Gefühl vermitteln, mit seinen Gefühlen und Gedanken in der besonderen Lebenssituation nicht allein zu sein.

Schritt für Schritt wurden die Teilnehmenden dann weiter an die Handhabung digitaler Medien herangeführt, etwa an die Funktionsweise und die Nutzungsmöglichkeiten von YouTube, Tiktok oder Instagram sowie an die technischen Voraussetzungen, um selbst Beiträge dafür auf dem Mobiltelefon, Tablet oder Rechner zu erstellen. „Das Schwierigste war das Editing, also das Schneiden und Bearbeiten der Videos“, so ein Teilnehmer. Im Teamwork und mit gegenseitiger Unterstützung gemäß dem Motto „Zeig mir das mal, ich kann es nicht“ kamen alle klar. Tutorials, Links und Hinweise auf entsprechende Apps förderten die selbständige Erarbeitung von Inhalten.

Anknüpfungspunkt dabei stets: kleine biografische Geschichten, etwa zu den Lieblingsorten der Teilnehmenden. So entstanden berührende Kurzvideos, in denen beispielsweise ein älterer Mann vor einer roten Holzhütte am Meer in die Kamera schaut und sagt: „Ich glaube, der beste Platz der Welt ist hier.“ So, als sei er selbst überrascht, diesen Platz gefunden zu haben.

Keine Angst vor KI

Immer weiter ging für die Teilnehmenden die Reise in die digitale Welt, schließlich auch zur Künstlichen Intelligenz (KI), von der die meisten zu Beginn des Projektes nur den Namen kannten. Wie werden mithilfe von KI Ideen zu Worten, Worte zu Bildern oder zu bewegten Bildern in Videos? So entstanden Kurzvideos, auf denen eine Teilnehmerin plötzlich verschwindet oder ein aus einem Freizeitpark ausgebüchster mutierter Langhalsdino unvermittelt in der Ostsee auftaucht. Das schnelle „Zaubern“ mit KI machte Spaß und öffnete gleichzeitig die Augen für grundlegende Fragen: Was ist wahr, was ist ein Fake?

KI zaubert einen Dinosaurier in die Ostsee

Workshopsituation

Die Erwachsenenbildung vor Ort profitiert vom europäischen Austausch

Den innovativen konzeptionellen Ansatz und die kreativen pädagogischen Materialien in Form von 51 Aufgabenblättern für die unterschiedlichen didaktischen Schritte in Workshops entwickelten die schwedischen und deutschen Partner in fünf persönlichen Meetings gemeinsam. Hier wurde lebhaft diskutiert, was in der konkreten Vermittlung gut oder weniger gut funktionierte und wie die nächsten Schritte aussehen könnten. Manches sei vergleichbar gewesen, anderes wegen der unterschiedlichen Lebensrealitäten der Teilnehmenden weniger kompatibel, so Armin Hottmann, Geschäftsführer des Kulturrings. Der internationale Austausch der Erwachsenenbildungseinrichtungen, die beide vielfältige Kunst- und Kulturprojekte entwickeln, sei sehr bereichernd gewesen, sagt Hottmann. Er ermöglichte den Blick über den Tellerrand der eigenen pädagogischen und künstlerischen Vorstellungswelt. „Und er bleibt auch nach Projektende bestehen“, so Hottmann.

Effekte sind spürbar – und bleiben

„Seit wir Kontakt mit den Leuten der Volkshochschule auf Øland haben, ist mir das Land Schweden viel näher gerückt,“ schreibt Tanja, eine Teilnehmerin des Erasmus+-Projektes „beyond fifty five“ in ihrem persönlichen Abschlussbericht. Freundschaft und Verständnis zwischen den Völkern der Europäischen Union zu fördern, sei ja auch der tiefere Zweck solcher Projekte, resümiert sie. Auch die Projektpartner sind zufrieden: Die Teilnehmenden seien sicherer und selbstbewusster nicht nur im Umgang mit digitalen Medien geworden: „Sie gehen raus und zeigen sich jetzt auch mal selbst im Bild, was früher nie möglich gewesen wäre“, sagt Felix Hawran. Auch andere Organisationen profitieren vom kreativen Ansatz des Projekts. Im Bildungsprogramm für Berliner Jobcoaches etwa konnte Hawran zeigen, wie sich KI-Bildgenerierung im Coaching von Arbeitssuchenden nutzen lässt, um auf kreative Weise Visionen von der beruflichen Zukunft zu erzeugen.

Der schönste Ort der Welt

Konkrete Beispiele für die Projektergebnisse sowie die Projektmaterialien

Das Projekt wurde im Rahmen von Erwasmnus+ , Projekttyp kleinere Partnerschaft in der Erwachsenenbildung unter der Projektnummer 2022-1-DE02-KA210-ADU-000081328 gefördert: 

https://erasmus-plus.ec.europa.eu/projects/search/details/2022-1-DE02-KA210-ADU-000081328

https://www.youtube.com/playlist?list=PLNV8ZbV0b9epr_bKdmJhEtt9QJV8iLlnS

https://www.beyond.kulturring.berlin/wp-content/uploads/2025/01/D63-booklet-low-res-pdf.pdf