Gemeinsam raus aus der gesellschaftlichen Nische - Erasmus+-Partnerschaft will die Bedeutung der Erwachsenenbildung in Gebärdensprache stärken

Die Strategische Partnerschaft „Aufbau und Vernetzung von Stadtführungen in Gebärdensprache“ soll Gehörlosen die Teilhabe an kulturellen Angeboten ermöglichen, von denen sie oftmals ausgeschlossen sind. In dem im September 2017 gestarteten Projekt arbeiten Institutionen aus Deutschland, Österreich und Italien zusammen. Ziel ist es, innovative Entwicklungen in der Erwachsenenbildung voranzubringen und Praxiserfahrungen auszutauschen. Dabei ist das Projekt zugleich Initiator eines europäischen Prozesses.

Immer noch sind gehörlose Menschen europaweit in ihrer schulischen und beruflichen Bildung benachteiligt und von gängigen Informationsquellen abgeschnitten. Besonders gravierend ist die Situation in der Erwachsenenbildung, denn hier gibt es laut Rudi Sailer, Vorsitzender des Netzwerkes der Gehörlosen-Stadtverbände Deutschland e.V. und Initiator des Projekts, Nachholbedarf. Abgesehen von einigen lokal begrenzten Angeboten sei die Situation in diesem Bereich unzureichend, vor allem wenn es darum gehe, dass Gehörlose als Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Bildungs- und Qualifizierungsangeboten profitieren könnten, betont Sailer.
 
Die Strategische Partnerschaft könne hier Abhilfe schaffen und als Schlüssel zu mehr Teilhabe fungieren. Das wurde auch beim Partnertreffen im oberbayerischen Freising deutlich. Die dort geführten Diskussionen zeigten auf, wie wichtig es ist, Initiativen für Gehörlosen-Stadtführerinnen und -stadtführer im deutschsprachigen Alpenraum zu vernetzen und einen Wissensaustausch im Sinne einer Hilfe zur Selbsthilfe zu fördern. So würden die Kursleitungen darin unterstützt, auf qualifizierter Grundlage und unter adäquaten Bedingungen vor Ort zu agieren und ein großflächiges Angebot an Stadtführungen in Gebärdensprache bereitzuhalten.

Unterschiedliche Ausgangsbedingungen

Doch nicht nur die Gebärdensprache selbst, sondern auch die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen sind von Land zu Land unterschiedlich. Während die Qualifizierung der gehörlosen Stadtführerinnen und –stadtführer sowie die Vernetzung der Aktiven in Deutschland recht weit entwickelt sind, stellt in Österreich insbesondere die Ausbildung eine Herausforderung dar. „Der Knackpunkt liegt aus meiner Sicht darin, dass der Beruf des Stadtführers bei uns eine geschützte Berufsbezeichnung ist. Das setzt eine zweijährige Ausbildung voraus, scheitert häufig aber an der fehlenden Kostenübernahme für notwendige Dolmetscher“, beschreibt Paul Steixner, österreichischer Co-Koordinator des Projektes, die Situation. Derweil gab es im italienischen Südtirol bis vor einigen Jahren keine eigene Gehörlosenschule, so dass der Unterricht in Mils nahe Innsbruck erfolgen musste. Das ist heute zwar anders, hat aber bei den älteren Gehörlosen dafür gesorgt, dass sie „deutsch“ gebärdensprachlich sozialisiert wurden. Daher ist die Kommunikation in den deutschsprachigen Alpenraum hier intensiver als nach Restitalien.

Lukas Huber, Leiter des Gehörlosenverbandes Niederösterreich, ist überzeugt, dass sowohl Österreich als auch Südtirol von den Erfahrungen in Deutschland profitieren können. Er unterstreicht: „Der Austausch gibt uns neue Ideen für unsere Arbeit, zum Beispiel bei der Bewältigung konkreter Hindernisse und in der politischen Lobbyarbeit. Indem wir lernen, wie die Dinge andernorts gelöst worden sind, können wir für unsere eigene Arbeit entsprechende Strategien ableiten und Strukturen schaffen.“ Gleichermaßen, so Christian Schönbeck, stellvertretender Vorsitzender des deutschen Netzwerkes, habe man auch selbst neue Impulse erhalten, zum Beispiel durch Apps und Videoguides für Gehörlose im Museumsumfeld.

Realisiert wird die Partnerschaft in Form von insgesamt acht transnationalen Meetings, die die Spezifika der jeweiligen Gastgeberländer berücksichtigen und in Bezug zum Gesamtprojekt setzen. Dessen Grundidee einer länderübergreifenden Wissensallianz soll über die Stadtführungen hinaus perspektivisch den gesamten kulturellen, gesellschaftlichen, beruflichen und persönlichen Sektor betrachten, auch den geographische Radius würde Rudi Sailer gerne erweitern: „Unsere Zukunftsversion ist ein Netzwerk, das auch Polen, Tschechien, die Slowakei oder Belgien einbezieht. Aktuell hinken wir in Mitteleuropa –verglichen mit den Ländern Skandinaviens – ein ganzes Stück hinterher. Diese Kluft wollen wir Schritt für Schritt reduzieren.“ 

Empowerment und gesellschaftliche Teilhabe

Erreichbar sind die gesetzten Ziele laut Sailer über das Empowerment der Akteurinnen und Akteure und die Verankerung der gesellschaftlichen Teilhabe. Sailer wörtlich: „Wir müssen unsere Visionen und Ideen aktiv weiterentwickeln und jeden Einzelnen in seinem Engagement stärken. Auf diese Art und Weise können wir die Perspektiven für Gehörlose zusehends erweitern. Stadtführungen bieten dazu eine hervorragende Gelegenheit, zumal sie im öffentlichen Raum wahrgenommen werden.“

 

Zugleich sind die Bildungschancen für Gehörlose in der Erwachsenenbildung von politischen Rahmenbedingungen wie der gesetzlichen Verankerung der Sprache in den jeweiligen Ländern abhängig. Hier strebt das Netzwerk eine höhere Akzeptanz der Gebärdensprache und eine Anerkennung als vollwertige Fremdsprache an. Gebe es in punkto Teilhabe im Hochschulbereich und in der Berufsbildung mittlerweile mehr Zugangsmöglichkeiten als noch vor einigen Jahren, so wolle man auch in der Erwachsenenbildung „raus aus der gesellschaftlichen Nische“. Dazu ist bereits ein neues Projekt in Planung, das Ende 2019 starten würde mit dem Ziel, sich der nachhaltigen Bildungsarbeit im Gehörlosenbereich auf internationaler Ebene zu widmen.

 

Juli 2019, Manfred Kasper

Bildnachweis: © NA beim BIBB / Fotograf: Manfred Kasper

Bildung für Europa - Nr. 2019/30: Pflege - aktiv im Alter

Medientyp: Journal, Format: DIN A4, Seitenzahl: 39, Erscheinungsjahr: 2019

Das Journal beleuchtet den Pflegenotstand aus europäischer Sicht als Thema bei Erasmus+. Internationale Bezüge spielen schon jetzt eine große Rolle, wenn es um Gesundheits- und Pflegeberufe geht. Im Mittelpunkt der öffentlichen Wahrnehmung steht hierbei oft die Rekrutierung von Fachkräften aus dem…

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